Bewusstsein als emergentes Phänomen im Tantrik Yoga
Einleitung
Das Konzept des Bewusstseins als emergentes Phänomen ist in der westlichen Philosophie und den Neurowissenschaften ein spannendes und viel diskutiertes Thema. Im Tantrik Yoga, insbesondere in den Lehren des Shaiva Tantra, erhält das Bewusstsein jedoch eine tiefere und umfassendere Bedeutung. Hier wird das Bewusstsein nicht nur als Resultat neuronaler Prozesse angesehen, sondern als grundlegende und schöpferische Kraft, die das gesamte Universum durchdringt. Die tantrischen Lehren bieten einen faszinierenden Blick darauf, wie Bewusstsein als nicht-duale Realität existiert, die alles Leben und jede Erfahrung grundlegend prägt.
Das Bewusstsein im tantrischen Verständnis
Im tantrischen Yoga, speziell im Kontext des nondualen Shaiva Tantra von Kashmir, wird Bewusstsein als das zentrale Prinzip des Seins verstanden. Dieses Prinzip ist bekannt als „Chit“, welches das ungeteilte und alles durchdringende Bewusstsein Shivas repräsentiert. Shiva und Shakti – Bewusstsein und Energie – werden als untrennbare Kräfte gesehen, die im dynamischen Spiel von Schöpfung, Erhaltung und Auflösung miteinander wirken.
Die tantrische Philosophie lehrt, dass das Bewusstsein keine passive Eigenschaft ist, die nur durch den Geist reflektiert wird, sondern eine aktive, kreative und universale Kraft. In dieser Tradition wird das Bewusstsein oft als „Spanda“ beschrieben, ein Begriff, der Schwingung oder Pulsation bedeutet und auf die dynamische Natur des Bewusstseins verweist.
Emergenz und die tantrische Perspektive auf Bewusstsein
In der modernen Wissenschaft wird Emergenz als das Auftauchen neuer Qualitäten oder Eigenschaften in einem System beschrieben, die nicht allein aus den Komponenten dieses Systems erklärbar sind. Analog dazu sieht das Tantrik Yoga das Bewusstsein als emergentes Phänomen, das durch die Verschmelzung von Shiva (Bewusstsein) und Shakti (Energie) entsteht. Abhinavagupta, ein bedeutender Philosoph des nondualen Shaiva Tantra, beschreibt das Herz als Symbol für die Vereinigung dieser beiden Kräfte.
In dieser Perspektive ist Bewusstsein nicht das Produkt eines physischen Prozesses, sondern ein fundamentaler Ausdruck der kosmischen Realität. Das Bewusstsein zeigt sich in der menschlichen Erfahrung und im gesamten Universum in einer unendlichen Vielfalt von Formen und Erlebnissen. Tantrik Yoga lehrt, dass alles Erlebte – sei es geistiger oder körperlicher Natur – letztlich ein Ausdruck dieses einen, ungeteilten Bewusstseins ist.
Praktische Anwendung: Meditation als Weg zur Bewusstseinsentfaltung
Die tantrischen Meditationspraktiken zielen darauf ab, den Praktizierenden in Kontakt mit dieser allumfassenden Realität zu bringen. Die Vijñānabhairava-Tantra, eine wichtige Schrift im Shaiva Tantra, beschreibt zahlreiche Techniken, um das Bewusstsein von seinen begrenzten Vorstellungen zu befreien und in ein expansives Gewahrsein einzutreten. Diese Techniken beinhalten nicht nur stille Meditationen, sondern auch visualisierte Prozesse, bei denen das Erleben des Bewusstseins als grenzenlos erfahren wird.
Tantrische Meditation wird oft als ein Prozess der „Erinnerung“ an den ursprünglichen Zustand des Bewusstseins beschrieben, bei dem der Praktizierende das Bewusstsein von mentalen Konstrukten befreit und die natürliche Klarheit und Weite des Bewusstseins erfährt. Durch die ständige Übung und Vertiefung dieser Praktiken wird das Bewusstsein des Einzelnen schrittweise erweitert, bis es sich als allumfassendes Gewahrsein manifestiert, das als „Bhairava“ oder das „Herz“ Shivas beschrieben wird.
Die Herausforderung des spirituellen Materialismus
Ein bedeutendes Hindernis auf diesem Weg ist der sogenannte spirituelle Materialismus, ein Begriff, den der tibetisch-buddhistische Lehrer Chögyam Trungpa prägte. Er beschreibt die Tendenz, spirituelle Praktiken und Erfahrungen wie materielle Güter zu „besitzen“ und damit das Ego weiter zu stärken. Im Tantrik Yoga wird diese Tendenz als eine Illusion betrachtet, die vom wahren Ziel des Erwachens ablenkt. Stattdessen wird betont, dass die Reise zur Bewusstseinsentfaltung ein Prozess des Loslassens und der Hingabe ist.
Schlussfolgerung
Bewusstsein als emergentes Phänomen im Tantrik Yoga bedeutet, sich auf die untrennbare Einheit von Shiva und Shakti, Bewusstsein und Energie, einzulassen. Diese Philosophie lädt dazu ein, die Grenzen des individuellen Bewusstseins zu überschreiten und die Realität als ein dynamisches, sich ständig entfaltendes Spiel des Bewusstseins zu erfahren. Tantrik Yoga fordert uns auf, alle Aspekte unseres Seins anzunehmen und die wahre Natur des Bewusstseins als transzendentes und immanentes Prinzip zu erfahren.
Weiterführende Quellen
- Licht auf Tantra: Die Philosophie hinter dem modernen Yoga von Christopher Wallis für eine Einführung in die Grundlagen des Tantrik Yoga.
- Meditations from the Tantras von Swami Satyananda Saraswati für verschiedene Meditationspraktiken.
- Spirituellen Materialismus durchschneiden von Chögyam Trungpa für ein Verständnis der Fallstricke auf dem spirituellen Weg.
- Bewusstsein im tibetischen Tantra: Das Bewusstsein aus der Sicht des Tantra
- Das Bewusstsein (Episode 13) «Die Faszination der Emergenz: Wie Bewusstsein aus komplexen Systemen entsteht
- Siehe auch: Abhinavagupta: Eine Reise in die Tiefe des Bewusstseins
Im Artikel beantwortete Fragen
- Wie wird Bewusstsein im Tantrik Yoga verstanden?
- Was bedeutet Emergenz im Kontext des Bewusstseins?
- Welche Hindernisse treten auf dem Weg zur Bewusstseinsentfaltung auf?
Stichwortliste
Tantrik Yoga, nonduales Tantra, Shaiva Tantra, Bewusstsein, Emergenz, Shakti, Spanda, spiritueller Materialismus, Abhinavagupta.
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