Die Kunst der Meditation im Tantrik Yoga: Vom mentalen Rauschen zur inneren Stille
Im Tantrik Yoga ist Meditation ein Weg zur direkten Erfahrung des Selbst und zur Ergründung des Bewusstseins. Statt den Körper als Hauptwerkzeug zu nutzen, richtet Tantrik Yoga die Aufmerksamkeit auf den Geist und die feinstofflichen Energien, um tiefe Selbsterkenntnis und eine erweiterte Verbindung zum Bewusstsein zu ermöglichen.
Die Philosophie der Meditation im Tantrik Yoga
Im klassischen Tantra, speziell im nondualen Shaivismus, wird das Bewusstsein als das Fundament unserer Existenz betrachtet. Meditation ist das Mittel, um die illusorischen Schleier der Dualität zu durchdringen und das reine Gewahrsein zu erleben – den Zustand jenseits von Worten und Gedanken. Diese Erfahrung von Gewahrsein (Awareness) ermöglicht es uns, uns von der Identifikation mit unseren Gedanken und Emotionen zu lösen.
Abhinavagupta, einer der wichtigsten Philosophen des nondualen Shaivismus, beschreibt Meditation als „den Zustand des Seins, der frei ist von allen Konzepten.“ Seine Sichtweise ist besonders relevant für das Tantrik Yoga, da sie den Kern der Meditation als Mittel zur direkten Erfahrung der inneren Wahrheit ohne intellektuelle Ablenkung betont. Die Lehren des Vijñāna Bhairava Tantra, einer der zentralen Schriften dieser Tradition, bieten verschiedene Meditationsmethoden, um das Bewusstsein zu erweitern und die Verbindung zur inneren Essenz zu stärken.
Praktische Anleitung zur Meditation für Anfänger und Fortgeschrittene
Hier findest du eine Schritt-für-Schritt-Anleitung für eine wirkungsvolle tantrische Meditationspraxis:
Vorbereitung
- Finde einen ruhigen Ort: Setze dich in einer bequemen Position hin. Dein Rücken sollte gerade sein, die Hände ruhen entspannt auf den Knien.
- Schließe deine Augen: Atme einige Male tief ein und aus, um dich zu zentrieren und den Geist zu beruhigen.
Schritt 1: Den Atem beobachten
- Beginne damit, deinen Atem bewusst wahrzunehmen. Spüre, wie die Luft durch deine Nase ein- und ausströmt.
- Nutze den Atem als Brücke, um deinen Geist zu beruhigen und die Verbindung zur Gegenwart zu stärken. Wenn Ablenkungen auftauchen, nimm sie wahr, ohne ihnen zu folgen, und kehre sanft zum Atem zurück.
Schritt 2: Verwendung eines Mantras
- Wähle ein Bija Mantra (Samenmantra) wie „So-Ham“ (Ich bin das), das oft im Tantrik Yoga genutzt wird. Wiederhole es leise in deinem Geist bei jedem Atemzug – „So“ beim Einatmen, „Ham“ beim Ausatmen.
- Erlaube dem Mantra, sich mit deinem Atem zu verbinden, und lass es tiefer in dein Bewusstsein sinken.
Schritt 3: Einführung in Mudras und Bandhas
- Chin Mudra (Daumen und Zeigefinger berühren sich sanft): Dieser einfache Mudra unterstützt die Konzentration.
- Mula Bandha (Wurzelverschluss): Hebe sanft den Beckenboden an, um die Energie zu sammeln und die Aufmerksamkeit im Inneren zu halten.
Schritt 4: Achtsamkeit über den Körper ausweiten
Nimm nun deinen ganzen Körper wahr. Beobachte Empfindungen, ohne zu bewerten. Lass den Atem weiter fließen und bringe Achtsamkeit in jeden Bereich deines Körpers.
Für Fortgeschrittene: Die Meditation auf das innere Licht (vgl. Vijñāna Bhairava Tantra, Vers 36)
Eine tiefere Technik im Tantrik Yoga ist die Meditation auf das innere Licht. Diese Methode, die im Vijñāna Bhairava Tantra beschrieben wird, öffnet die Wahrnehmung für die subtile, innere Präsenz von Bewusstsein (Shakti), die das individuelle Selbst durchdringt und verbindet.
Anleitung:
- Setze dich in eine meditative Haltung und schließe sanft die Augen.
- Visualisiere ein kleines, leuchtendes Licht in deinem Herzen oder zwischen den Augenbrauen. Das Licht im Herzen steht für die Quelle des Mitgefühls und der Liebe, während das Licht zwischen den Augenbrauen, auch als drittes Auge bekannt, für intuitive Erkenntnis und höheres Bewusstsein steht.
- Konzentriere dich auf dieses Licht und spüre, wie es sich mit jedem Atemzug langsam ausbreitet.
- Wenn Gedanken oder Emotionen aufkommen, nimm sie wahr, aber lasse sie in das Licht eintauchen und sich darin auflösen.
Ziel: Diese Praxis fördert das Einswerden mit der subtilen Energie des Bewusstseins und die Erfahrung, dass dieses Licht nicht nur innerhalb von uns, sondern in allem und jedem leuchtet.
Ein abstraktes Bild, das das innere Licht der Meditation darstellt. Im Fokus steht eine leuchtende Lotusblume, die Transformation und inneren Frieden symbolisiert.
Die Vertiefung: Theoretischer Hintergrund und spirituelle Dimension
Im nondualen Shaivismus und im Kashmir Shaivismus gilt die Meditationspraxis als Tor zur Erkenntnis der eigenen inneren Natur. Die Verschmelzung von Atem, Mantra und Gewahrsein hilft dir, die Grenzen des physischen Selbst zu überschreiten und in den Zustand reinen Bewusstseins einzutauchen.
Der nonduale Shaivismus beschreibt diesen Zustand als „Shiva-Bewusstsein“, ein Zustand des Einsseins mit dem Universum. Im Vijñāna Bhairava Tantra werden zahlreiche Meditationsmethoden vorgestellt, die darauf abzielen, das Bewusstsein zu erweitern und das Spiel von Shakti (Energie) und Shiva (Bewusstsein) im eigenen Inneren zu erfahren. Ein Beispiel dafür ist die Meditation über die Lücke zwischen zwei Atemzügen. Diese Methode besteht darin, den Moment der Stille zwischen Ein- und Ausatmen bewusst wahrzunehmen, um das Gefühl von Leere und damit reinen Gewahrseins zu erfahren.
Fragen zur Reflexion und Leserinteraktion
- Hast du bereits Erfahrungen mit Mudras oder Bandhas in deiner Praxis gemacht?
- Wie erlebst du die Verbindung von Atem und Präsenz in deiner Meditation?
- Was fühlst du, wenn du das Mantra mit deinem Atem synchronisierst?
Weiterführende Quellen
- Christopher Wallis – Tantra Illuminated: Fundierte Einführung in die Lehren des nondualen Shaivismus und Erläuterung tantrischer Meditationstechniken.
- Bettina Bäumer – Vijñāna Bhairava – Das göttliche Bewusstsein: Grundlagen des Kashmir Shaivismus und Meditation als Methode zur direkten Erfahrung des Bewusstseins.
- Daniel Odier – Tantra Yoga: Das Buch erklärt die tantrischen Techniken des tantrischen Shaivismus auf poetische Weise und bietet 112 praktische Methoden zur spirituellen Erleuchtung.
- Vijñāna Bhairava: Vers 36 und 37
- Siehe auch: Was ist Tantrik Yoga
Im Artikel beantwortete Fragen
- Was ist das Ziel der Meditation im Tantrik Yoga?
- Wie hilft die Meditation, das reine Gewahrsein zu erleben?
- Was beschreibt Abhinavagupta über den Zustand der Meditation?
- Wie kann man eine tantrische Meditationspraxis beginnen?
- Welche Rolle spielen Bija Mantras wie ‚So-Ham‘ in der Meditation?
- Was ist der Nutzen von Mudras und Bandhas während der Meditation?
- Wie wird die Meditation über die Lücke zwischen zwei Atemzügen durchgeführt?
Stichwortliste
Meditation im Tantrik Yoga, Kashmir Shaivismus, Gewahrsein, Bija Mantras, Mula Bandha, Mudras, Vijñāna Bhairava Tantra